Der Schub

Wie heißt das Zeug nochmal, in dem der Spezi mit dem Kopf hängt. »Spaghetti aglio olio e peperoncini«? Er sieht aus wie
ein Schaufelbagger. Der hat offenbar den ganzen Tag noch nichts zu essen gehabt. Zum Glück hält er den Kopf mit der
Futterluke direkt über den Teller. Almuth schaut unsern Spagetti-Vernichter an, als sei er von einem anderen Stern.
Was? Hm, scharf, scharf! Ich habe vielleicht Hunger!
Dass der jetzt ausgerechnet Spagetti essen muss? Und wie bekommt der nur die scharfen Nudeln so schnell runter?
Sag mal, Spezi, wie lange hattest du eigentlich nichts mehr zu essen? Peperoncini sind doch die kleinen scharfen
Schwestern von Peperoni, oder?
Mm! Ja, lecker! Habt ihr eigentlich kein anderes Thema als mein Essen?
Dabei hängt ihm wieder ein besonders widerspenstiges Nudelexemplar mit Soße aus dem Mund. Ich sollte tatsächlich das
Thema wechseln. Jedenfalls habe ich heute Abend keinen Hunger mehr.
Denise hat einen Schub! Sie kommt heute Abend nicht. Ich habe heute Morgen noch mit ihr telefoniert. Corti hat sie
schon eine ganze Zeit hinter sich!
Almuth schaut betreten vor sich auf den Tisch und nimmt einen Schluck Wasser, während unser Spezi unbeeindruckt die
letzten Nudelreste vom Teller kratzt.

Meine Güte war das lecker! Die haben hier echt die besten Spagetti aglio ...

Denise lässt sich sofort Corti einflößen? Das würde ich nie machen. Was man da alles an Nebenwirkungen kriegen kann!
Stirnnacken, Zucker, Wassereinlagerungen, Depression, ...
Du musst jetzt nicht alles aufzählen, Almuth; wir kennen das alles! Die Frage ist immer: Welche Alternative hast du? Und
ihr kennt unseren Neuro doch! Wenn zugeschlagen wird, dann sofort!
Du meinst, sie war gar nicht im MRT zur Abklärung? Das ist doch unverantwortlich.
Ich bin immer wieder erstaunt, dass du zu unserem Neuro gehst, Almuth! Ach ja, du hattest ja noch keinen Schub, seit du
bei ihm bist. Jedenfalls bin ich jetzt schon gespannt, was du dann machst!
Da bin ich auch gespannt. Unser Neuro ist sehr überzeugend, wenn es um Cortisonstoßtherapie geht.
Was hast du dir denn für den Fall der Fälle zurechtgelegt, Almuth?
Natürlich ausheilen lassen! Von Cortison bekommt man viel mehr Nebenwirkungen, als das Zeug hilft. Damals im
Krankenhaus war ich vom Kortison kaputter als vom Schub. Da habe ich mir geschworen: Nie wieder!
Du weißt aber schon, dass MS im ungünstigsten Fall aus deinem Hirn Frikasee macht, oder? Wenn da erst einmal etwas
richtig kaputt ist, stehen die Chancen schlecht, dass da jemals wieder Geistesblitze durch die vernarbten Nerven schießen.
Das ist dann eher so ein müdes Aufflackern.
Und wer sagt dir, dass Cortison das verhindert? Meine Herde im Kopf sind immer noch zu sehen, trotz Cortison!
Almuth, das ist immer die gleiche Diskussion. Was du da siehst auf den Bildern, ist doch egal. Niemand wird dir anhand
der Bilder sagen können, wie stark an der Stelle die Nervenleitung beeinträchtigt ist. Und natürlich weiß man nicht, ob
Cortison im speziellen Fall tatsächlich das macht, was du dir vorstellst. Heilung gibt es halt nicht! Aber ...
Und genau deshalb mache ich meinen Körper doch nicht mit schlimmster Chemie an anderen Stellen kaputt.

An die Wirkung glaubst du also nicht, aber von den Nebenwirkungen bist du absolut überzeugt? Wenn wir dem
Beipackzettel glauben, treten die meisten Nebenwirkungen nur mit einer niedrigen Wahrscheinlichkeit auf.

Und wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass es hilft? Davon habe ich noch nie was gelesen. Komisch oder?
Das war jetzt ausgesprochen schlau. Wenn man es genau bedenkt, ist das schon eine komische Sache. Was würde wohl
passieren, wenn ein Warnhinweis für eventuell nicht funktionierende Wirksamkeit auf der Verpackung stünde? Hm.
Hm!
Du hast da noch ein bisschen Agli...
Tatsächlich hängen da noch Reste des Essens im Bart. Wir schauen uns an, und beginnen zu lachen. Endlich ist es wieder
etwas entspannt. Trotzdem ist die Angst um Denise spürbar. Es ist schon etwas anderes, wenn man persönlich jemanden
kennt, der vielleicht nie wieder so sein wird, wie man ihn kannte. Die Gefahr besteht!
Früher war alles noch einfacher. Der Arzt in seinem weißen Kittel sagte, was zu tun ist, und wir glaubten daran. Heute
möchten wir aufgeklärt werden, beschweren uns aber, wenn wir Entscheidungen selbst treffen sollen. Dann ist das
Geschrei nach Wahrheit groß. Die Cortisonfrage kann man immer so oder so beantworten. Ich nehme es, weil ich hoffe,
dass es hilft. Aber das mit der Wirkung und der Nebenwirkung ist wirklich interessant, Almuth. Die Wirkung ist quasi gar
nicht beweisbar, aber die Nebenwirkung umso besser. Jedenfalls bei unseren Medis. Interessant! Aber dass der
Gesetzgeber nicht darauf besteht, dass die Wirksamkeit angegeben werden muss, ist schon komisch. Wahrscheinlich ist
von den politischen Gesundheitsgurus noch nie einer auf diese Idee gekommen!
Warum gehen wir denn zu unserem Neuro? Auch wenn ich oft Zweifel habe, setze ich aber darauf, dass unser Neuro
Ahnung und Erfahrung hat. Immerhin hat er die Hütte immer voll sitzen!
Indem wir unseren Arzt aussuchen, wählen wir schon das, was wir haben möchten. Bist du ein Weichei, dann wirst du
garantiert einen Arzt finden, der dir einen schräg verheilten Bruch mit Massagen und Lymphdrainagen wieder richten
will. Stehst du mehr auf die Methode „Augen zu und durch“, gehst du sicher zu einem, der sagt: „Schaun Sie mal nach
rechts!“, und der dann den alten Bruch einfach nochmal bricht. Ohne, dass du überhaupt was einwenden kannst. Die
Arztwahl ist immer auch die Wahl der Behandlung. Wer sucht, der findet auch den, den er will.
Willst du damit sagen, wir wären immer selbst schuld? So nach dem Motto „Pech gehabt“! Hast du den falschen Arzt?
Hast du ihn dir selbst ausgesucht!
So krass meine ich das nicht. Aber ein bisschen ist es schon so. Unsere Ärzte müssen mit der Krankheit nicht leben. Und
sind wir mal ehrlich, für einen Arzt ist es frustrierend, jemanden zu behandeln, den man sowieso nicht heilen kann.
Andererseits kann man allerdings auch keine großen Fehler machen. Ein Neurologe ist für uns doch mehr ein Begleiter
mit Fachwissen, oder? Unheilbar ist unheilbar!
So habe ich das noch nie gesehen! Da ist aber was dran, schlauer Spezi. Nur was fange ich damit an, wenn es wirklich so
ist? Dann bin ich immer die Dumme! Niemand nimmt mir Entscheidungen ab und steht dafür gerade. Das ist große
Scheiße!
Genau! Am Ende stehst du da mit deinem kurzen Hemd, während dir der Wind um die Ohren pfeift. Leute, mir hat die
Runde schon was gebracht, auch wenn ihr mich mit meinem Sportgedanken für bescheuert haltet. Und ihr habt recht! Ich
hatte noch keinen Schub, seit ich bei unserem Neuro bin! Vor zwei Jahren hatte ich einen Kapselriss im rechten
Sprunggelenk. Eine Freundin riet mir dann von dem Unfallarzt ab, zu dem ich ging. Sie wäre bei jemandem gewesen, der
hätte ganz vorsichtig hantiert und ihr hätte nichts weh getan. Der Unfallarzt, bei dem ich war, sagte, wenn sie schnell
wieder auf die Beine kommen wollen, belasten sie die Füße sofort wieder und reizen Sie den Schmerzpegel so weit aus,
dass Sie es gerade noch aushalten können. Der Schmerz geht dann schnell weg und es heilt. Was soll ich sagen! Ich war
nach kurzer Zeit wieder fit. Meine Freundin hat doppelt so lange gebraucht. Und es ziept heute noch, hat aber auch
funktioniert.
Ihr mögt ja Recht haben. Aber muss man nicht die Probleme seines Lebens immer selbst bewältigen. Wenn wir alles, was
uns schwerfällt, andere entscheiden lassen, kommt irgendwann der große Katzenjammer. Am Besten ist dann der
Spruch: „Ich wusste es ja schon vorher!“ Ich fühle mich bei unserem Neuro gut aufgehoben. Wenn wir eine Behandlung
besprechen, erklärt er sie gut und weist darauf hin, dass ich letztendlich entscheiden muss. Einmal fragte ich ihn, was er
denn in meiner Situation machen würde. Erst redete er sich raus. »Ich bin nicht krank!« Aber ich lies nicht locker und
sagte, aber wenn er krank wäre, was er machen würde. Das war das erste Mal, dass ich gesehen habe, wie er eine längere
Denkpause vor einer Antwort einlegte. Und dann hat er mir geantwortet. Und ich habe mich entschieden, es auch so zu
machen. In dem Moment hatte ich volles Vertrauen. Ich war quasi richtig begeistert von meiner Entscheidung.
Also Denise hat erstmal die Entscheidung getroffen, Corti zu nehmen. Sie ist morgens aufgewacht und hat total
verschwommen gesehen. Denise hatte echt Panik! Als wir telefonierten, war sie immer noch stark angeschlagen. Offenbar
war der Beinbruch der Vorbote. Sie sagte am Telefon, dass das Bein jetzt taub sei, was bei einem gebrochenen Bein nicht
so schlimm ist! Na, ja. Ihr kennt sie ja. Offenbar hatte sie auf der Treppe schon leichten Schwindel. Taubheit und
Schwindel, die schlagartig auf der Treppe beginnen, sind nicht so toll. Nach der ersten Infusion ist es noch schlimmer
geworden. Sie bekam auch gleich 1000 mg. Eigentlich wollte unser Neuro sie sogar ins Krankenhaus einweisen. Denise
wollte aber auf keinen Fall. Sie sagte, sie hätte ihm hoch und heilig versprochen, nicht durch die Bude zu rennen. Wer`s
glaubt! Jedenfalls hat sie 5 Tage Corti bekommen. Dementsprechend aufgedreht war sie auch am Telefon. Ich soll euch
jedenfalls ganz lieb grüßen.
Dann hat es sie aber richtig heftig erwischt!
Kann man noch nicht sagen, Almuth! Erstmal soll sie sich ausruhen. Und nächste Woche geht´s wieder ab in die Praxis.
Ob etwas übrig bleibt, kann man erst später sagen. Es hört sich jedenfalls nicht nach einem Schnupfen an.
Aber dann muss sie doch jetzt erstmal schnell ins MRT! Ich verstehe sowieso nicht, warum er das nicht als Erstes
veranlasst hat!
Ich schon. Unser Neuro steht auf dem Standpunkt, sofort mit Corti zuzuschlagen. Bis du in der Radiologie einen Termin
für ein MRT bekommst, kannst du gleich aufs Corti verzichten. Außerdem ist es ein Zeichen von Vertrauen. Unser Neuro
sieht sie, macht Tests und vor allem glaubt er ihr. Wozu dann ein MRT? Und nun, mit Corti im Körper, sieht man selbst
mit Kontrastmittel nichts mehr auf den MRT Bildern. Jedenfalls nichts Frisches.
Wenn man Corti bekommt, kann man die Herde nicht mehr erkennen? Aber sie muss doch wissen, was da passiert ist!
Ich wollte das unbedingt wissen. Man kann doch nicht so durch die Gegend laufen. Sie weiß doch gar nicht, wie schlimm
es ist und was jetzt noch zu tun ist.
Almuth, was sollen daran die Bilder ändern? Die haben doch keine Auswirkungen auf eine mögliche neue Therapie.
Ich wollte anfangs auch immer Bilder sehen. Das letzte mal, als ich aus dem MRT kam, sagte der Radiologe: »Ihre
Läsionslast ist viel größer, als es ihr Zustand aussagt.« Läsionslast! Das heißt doch nur, dass die Bilder nicht zu meinem
Allgemeinzustand passen. Danach habe ich mit unserem Neuro darüber gesprochen und er sagte, dass wir dann nur noch
in großen Abständen eine Verlaufskontrolle machen werden, wenn ich will.
Man, man! Also ich kann mich damit so gar nicht anfreunden. Ich verstehe euch ja, aber mir ist es doch lieber, wenn ich
sehe, ob und was sich da tut in meinem Kopf.
Kannst du doch auch machen, Almuth. Wenn du dich dann sicherer fühlst! Ich glaube nicht, dass unser Neuro nein sagt.
Alles, was uns beruhigt und stärkt, sollte gut sein oder?
Sehe ich auch so! Meint ihr, Denise kommt das nächste Mal wieder in unsere Runde?
Hm! Jetzt sitzen wir hier und schweigen. Zuschauen ist manchmal fast schlimmer, als selbst dran zu sein. Nach diesem
Abend werde ich bestimmt nicht gut schlafen. Im Alltag denke ich eigentlich die meiste Zeit nicht an meine MS.