Ataxie

Als wir erkrankten, hatten wir von diesem Symptom mit großer Wahrscheinlichkeit noch nie etwas gehört. Nach der Diagnose gibt es kaum jemanden, der diesen Begriff nicht irgendwo in seinen Unterlagen gelesen hat oder von einem Medizinprofi vermittelt bekam.
Wir beziehen uns bei der Beschreibung weitestgehend auf WIKIPEDIA[1], wobei auch Wikis Erklärung schwer verständlich ist, wenn man nicht gewisse medizinische Grundkenntnisse besitzt.

Am einfachsten lässt sich Ataxie dadurch beschreiben, dass MS als Grund für eine Ataxie auf der WIKIPEDIA Seite direkt hinter der chronischen Alkoholvergiftung kommt. Jeder kennt wohl den Spruch: »Der hat sich das Hirn weggesoffen!« Genau! Jede Volksweise hat einen wahren Kern. Dummerweise ist eines unserer größten Probleme bei Ataxie, dass sie mit besoffenen Mitbürgern - assoziiert, würde der Arzt sagen - in Verbindung gebracht wird.
Die linke Figur lässt keine Fragen offen, die rechte könnte ihre Ataxie verbergen oder eine Charlie-Chaplin-Imitation sein. Dass es unterschiedliche Gründe im zentralen Nervensystem für eine Ataxie gibt, also Kleinhirn oder Rückenmark ist schuld, spielt für uns keine große Rolle.
Dass jemand, der von Gang- und Stehataxie betroffen ist, nur eine Krücke mit sich herumschleppen muss, damit er/sie auf der Straße nicht ständig blöd angesprochen wird, das ist das eigentliche Problem. Als wolle uns Mutter Natur einen Streich spielen, gibt es ausgerechnet gegen Ataxie nichts aus der Hexenküche der Pharmaindustrie. Auch wenn einige von uns im Selbstversuch festgestellt haben, dass gewisse Mengen Alkohol dazu führen, dass man irgendwann das Glas gefahrlos an den Mund bekommt, möchten wir daran erinnern, dass Alkoholiker irgendwann auch von Ataxie betroffen sein können. Das kann ein Teufelskreis werden.

Wie äußert sich eine Ataxie? Eigentlich ist es ganz einfach. Unsere Muskeln wissen nicht mehr, was sie zuerst und zuletzt machen sollen. Ihre Funktion ist fehlgeleitet. Für jede Muskelbewegung gibt es immer einen Muskel, den wir anspannen, und gleichzeitig einen anderen, den wir entspannen.
Was passiert, wenn die Übergänge nicht fließend sind, wenn jeder Muskel sein Recht einfordert und loslegt wie die berühmte Feuerwehr.
Ein Beispiel aus dem Sport verdeutlicht es. Fußballer müssen beim Schuss ihr Schussbein unnatürlich verrenken, um mit der Innenseite des Fußes den Ball nach Möglichkeit kontrolliert ins Tor zu befördern. Das führt nicht nur zu O-Beinen, sondern auch zu häufigen Adduktoren-Verletzungen. So heißen die Muskeln, die das Bein heranziehen. Für das Abspreizen verfügen wir über Abduktoren.

Wir wollen nun nicht Fußballspielen, aber wenn sich Adduktor und der Abduktor nicht einig sind und beide anspannen, kann es sein, dass wir wie auf Stelzen gehen.
Während der Fußballer bewusst etwas mit seinem Adduktor macht, tun unsere Muskeln ihre Arbeit im Verborgenen.
Wir können bewusst das Ganze nur „verschlimmbessern“. Die Devise unseres Körpers lautet: »Alles festmachen, anspannen.«
Das machen Besoffene genauso.

Die Beine haben einen festen Untergrund, also einen Gegendruck. Unser Rumpf hat den schon weniger und Kopf und Arme quasi gar nicht.
Aus der Physik sind Schwingkreise bekannt, die ohne Dämpfung in sogenannte Resonanz geraten. Einfach ausgedrückt: Ein ausgewogenes System gerät in Unordnung, es läuft aus dem Ruder. Wohin weiß man nicht. Dieses Aus-dem-Ruder-laufen ist Ataxie.
Wir möchten hier nicht alle Ausprägungen genauestens besprechen. Das wäre viel zu umfangreich. Für uns sind Rumpfataxie, Zeigeataxie, Gangataxie und in ganz seltenen Fällen Kopfataxie die am häufigsten bei MS auftretenden Ataxien.
Generell kann aber an jeder Stelle unserer Muskulatur ein solcher Zustand auftreten, wenn die Koordination in Unordnung gerät.
Ihr merkt schon, dieser Artikel ist lang, wir hoffen nicht zu lang!

Es ist eminent wichtig, dass man gegen Ataxie etwas unternehmen kann! Wir sind selbst gefragt! Wir müssen auf uns schauen! Wir müssen herausfinden, wie wir funktionieren!
Das haben wir seit unserer ganz frühen Kindheit nicht mehr getan und es fällt uns schwer. Alles in unserem Körper funktioniert mittlerweile automatisch. Wir glauben, das wäre selbstverständlich, ist es aber nicht.
Es war, als wir noch die Windeln voll hatten, ganz hartes, intensives Training. Wir können uns nur nicht erinnern. Und damals hatten wir nichts Besseres vor, als uns auf zwei ungeeigneten, krummen Beinen zu halten. Und dafür, wofür der Alkoholiker Häme erntet, gab es damals Beifall von den stolzen Eltern, auch wenn wir immer wieder auf die „Schnauze“ gefallen sind.
Kleinkinder finden es cool, Laufen zu lernen. Erwachsene sind so davon geprägt, dass sie über das Gehen nicht nachdenken müssen, dass es ihnen aber unendlich schwerfällt Muster zu ändern.
Ihr erkennt, wer etwas gegen seine Ataxie tun will, hat harte Arbeit vor sich und wird damit belohnt, etwas ein bisschen zu können, was er/sie schon mit zwei Jahren perfekt beherrschte.
Keine rosigen Aussichten? Doch!

Denn wir tun etwas für uns. Wir beschäftigen uns mit unserem Körper, so wie er nun einmal durch MS geworden ist.
An dieser Stelle möchten wir einen Feldenkrais-Lehrer zitieren:

Der Feldenkrais-Lehrer fragt den von MS Betroffenen, was er für Ziele hat.

Mann: Ich will wieder so gehen können wie vorher!
(Der Mann sitzt im Rollstuhl und kann sich nicht einmal auf die Toilette umsetzen)
Lehrer: Warum wollen Sie nur so laufen können wie vorher?
Mann: Hä?
Lehrer: Na ja, es könnte ja auch besser werden!

Dieses kleine Beispiel erklärt unser Dilemma. Politiker und Börsenspekulanten erzählen im TV etwas von Paradigmenwechsel, um im gleichen Atemzug Sachverhalte für alternativlos zu erklären. Unter Paradigmenwechsel versteht man die Änderung einer vormals in Beton gegossenen Meinung oder Handlungsweise. Wir können uns das Geschwätz nicht leisten, wollen wir
uns mit unserer MS arrangieren und damit so leben, wie es für uns am besten ist. Alternativlos ist für uns gar nichts.
Findet die Pharmabranche etwas gegen Ataxie, ist das toll!
Unser Grundansatz muss jedoch sein, selbst etwas zu unternehmen. Das können wir sofort tun. Wir müssen nicht auf andere warten.

Gegendruck ist das Zauberwort! Ob wir Yoga, Feldenkrais oder etwas Anderes tun, ist eigentlich egal, Hauptsache wir tun es.
Viele Wege führen nach Rom.
Ein wesentlicher Aspekt ist der Spaß, den wir mit „vollgesch... Windeln“ hatten, als wir das erste Mal, von Mami und Papi bestaunt, auf den Beinen standen. Diese Begeisterung müssen wir uns irgendwie neu schaffen. Wir benötigen Anreize. Wer kann schon Spaß daran haben, etwas gegen eine teuflische Krankheit zu tun, die unberechenbar ist, denkt ihr jetzt vielleicht.
Und womöglich kehrt die Sache mit den Windeln auch noch zurück.
Was glaubt ihr, wie das Leistungssportler machen, die wir für ihren Reichtum beneiden, es selbst aber nicht schaffen, ein paar Runden auf dem Fahrrad zu drehen?
Harte Arbeit und Spaß! Anreize! Kauft euch das Fahrrad, das so teuer ist, dass ihr es nicht in der Garage vergammeln lasst. Ihr seid nun zum Leistungssport verdammt!
Das ist womöglich wirklich alternativlos! Jedenfalls, wenn ihr euch nicht ergeben wollt. Man kann auch sitzen bleiben! Wer das für sich gewählt hat, soll es aber nicht der MS in die Schuhe schieben!
Wir brauchen also Gegendruck. Die Yogalehre kennt das und andere Körperlehren gleichermaßen. Ob unsere Neurologen das kennen, sei dahingestellt. Es ist aber auch nicht ihr Job, das zu wissen, und selber haben sie schließlich keine MS. Versucht einmal, einem Gesunden zu erklären, dass ihr bei der Kurbelumdrehung auf dem Fahhrad, kurz vor dem höchsten Punkt der Kurbel, abstoppt und das Knie zittert wie Espenlaub.

Wenn ihr es das erste Mal schafft, dass Bein bei Entlastung auf dem Fahrrad vor dem „Ausflippen“ zu bewahren, könnt ihr vielleicht immer noch nicht ohne Stock durch die Stadt gehen, wenn ihr nicht mit einem Besoffenen verwechselt werden wollt, aber ihr wisst: »Es funktioniert! Ich kann was tun!«
Der Gegendruck ist wie die Dämpfung eines Systems in der Technik. Eine Feder, die einen Gummipfropfen am Ende hat, damit sie nicht ewig hin und her schwingt. Ich spüre etwas, was ich zusätzlich erzeuge und zwinge den richtigen Muskel dazu, darauf zu reagieren. Hört sich einfach an, ist es aber nicht!
Weil wir verlernt haben, mit unserem Körper bewußt in Kontakt zu treten, als wäre er neu!

In den Leitlinien[2]
zur Diagnose und Therapie von Multiple Sklerose finden wir leider nur den Hinweis aus dem Jahr 2007, dass nichtmedikamentöse Verfahren keinen nachweisbaren Erfolg erbringen. Wen wundert das?
Wieso sollte ein finanziell starker Konzern eine Studie machen, aus der hervorgeht oder gehen könnte, dass das beste Mittel gegen Ataxie eine Art Leistungssport für MSler ist. Körperlichkeit üben und sich selbst neu entdecken.
Hallo! Wen sollte das interessieren, wo unser Gesundheitssystem privatisiert ist?
Also müsst ihr das selbst in die Hand nehmen!
Das ist die größte Aufgabe, die ihr zu bewältigen habt, wollt ihr erfolgreich eure Symptome bearbeiten. Ataxie ist eine harte Nuss. Knackt sie!

Einzelnachweis

[1] : Ataxie Wikipedia

[2] : Leitlinien des AWMF