Dysarthrie (veraltet: Dysarthropneumophonie) / Sprachstörung

Wieder so ein schwieriges Wort aus dem Griechischen. Wir beginnen mit Dys. Dys heißt einfach schlecht (kennen wir von Dysphagie). Leider fanden wir nichts für »arthrie« also macht das Wort ausnahmsweise nur als Ganzes Sinn und heißt Sprachstörung.

Nun gibt es jede Menge Arten von Sprachstörungen, die jeder von uns kennt. Da haben wir zu allererst das Stottern, was bekanntermaßen unter Schülern und in Hollywoodfilmen zu Lachern führt. Stotterer werden gern nachgeahmt und verspottet. Sobald die Sprache gestört ist, verändert sich auch die Persönlichkeit des Betroffenen im Auge des Betrachters in ungeahnter Weise.

 

Damit sind wir schon beim eigentlichen Problem. Es ist nämlich nicht so, dass Menschen mit Sprachstörungen automatisch nicht verstanden würden, sondern die Art wie sie sprechen, erfordert vom Zuhörer erhöhte Aufmerksamkeit. Bekommt ein Betrunkener Aufmerksamkeit, wenn er zu lallen beginnt? Nein, natürlich nicht. Das Gegenteil ist der Fall. Ein Betrunkener erzählt sowieso nur Unsinn.

 

Was ist mit einem Menschen mit „Trisomie 21“ (Down-Syndrom)?

 

Der Mann oben ist normal gekleidet, trägt ein Musikinstrument oder einen Tennisschläger in einer Hülle auf dem Rücken und lächelt. Dennoch sehen wir auf den ersten Blick, dass da irgendetwas nicht stimmt, dass dieser Mensch sich von dem, was wir uns als normal vorstellen, deutlich unterscheidet. Auch „Trisomie 21“-Betroffene sprechen häufig verwaschen. Die Medien haben erfreulicherweise eine Menge Aufklärung geleistet, denn wir wissen zwischenzeitlich, dass Betroffene mit dieser Krankheit - je nach individueller Ausprägung - ein eigenständiges Leben führen und in absoluten Ausnahmefällen sogar ein Studium absolvieren können.

 

Was hat das alles mit MSlern und ihren Sprachstörungen zu tun? Wir sind doch nicht geistig behindert! Nuscheln, langsame und verwaschene Sprache sind eine Art der Behinderung, die dem Außenstehenden Aufmerksamkeit abverlangt. Aufmerksamkeit, die man auch aufbringen muss, wenn der Gesprächsinhalt beiläufiger Small-Talk ist. Wenn jemand nuschelt, fühlen wir uns unwohl. Wir wissen noch weniger, wie wir mit unserem Gegenüber umgehen müssen, als säße jemand im Rollstuhl vor uns. Unsere Stimme erzeugt bei unserem Gesprächspartner Sympathie oder Antipathie.  Ein Gehbehinderter ist nur in der körperlichen Fortbewegung verlangsamt. Verwaschene Sprache verlangsamt und verändert das soziale Miteinander und wirkt damit unmittelbar auf alle Menschen, mit denen wir umgehen.

 

Dysarthrie verlangsamt unsere Umgebung und das ist eine sehr schwierige Situation. Bevor wir das weiter ausführen, machen wir einen kleinen Ausflug zu den Ursachen von Dysarthrie.

 

Wie bei vielen anderen Problemen ist die Aktivierung von Muskeln entscheidend. Dabei ist es egal, ob sie nun durch Taubheit (nicht spürbar oder gedämpft spürbar) gestört oder spastisch gelähmt sind. Es geht immer um die Kontrolle, die wir vor dem Krankheitsereignis wie selbstverständlich hatten. Die Kontrolle über die Sprache geht uns durch Spastik im Mund- und Rachenraum mehr oder weniger verloren. Um Sprache zu formulieren, benötigen wir viele kleine Muskeln, die ganz genau zusammenarbeiten müssen. Sind einige dieser Muskeln von der Krankheit betroffen, werden wir schlagartig verlangsamt.

 

Ein kleiner Selbstversuch verdeutlicht das Problem. Versucht einmal zu sprechen und drückt dabei die Zunge oben gegen den Gaumen.. Na? Wie hört sich das an? Was verbindet ihr mit einer Sprache, die sich so anhört?

 

Zu Beginn einer sich ausbildenden Dysarthrie möchten wir genauso schnell weiter sprechen wie zuvor, was die Sache nur noch verschlimmert, da wir dann von unseren Gesprächspartnern nicht mehr verstanden werden. Also müssen wir unsere Muskeln trainieren und versuchen, die unwillkürliche Sprache wiederzuerlangen.

Dabei helfen uns Logopäden, indem sie mit uns den Gebrauch der Zunge und des Gaumens intensiv trainieren. Darin beziehen die Logopäden die gesamte Gesichtsmuskulatur ein, die in einem komplizierten Zusammenspiel das Formulieren von Sprache bewirkt.

 

 

Einem Kleinkind, das so niedlich rüberkommt, widmen wir gern unsere Aufmerksamkeit, obwohl aus diesem lieblichen Gesicht nur Tatata und Bababa kommt. Man spricht mit dem niedlichen Kleinen, auch wenn man sein Gebrabbel nicht versteht, und fragt so lange nach, bis man begreift, dass die Hose ihre Belastungsgrenze erreicht hat. Und wenn wir ehrlich sind, haben wir es nicht verstanden, sondern gerochen.

Bevor die Kleinen sprechen können und dabei noch ein angemessener Wortschatz herausspringt, dauert es Jahre. Tiefschürfende Konversationen mit Kleinkindern kann man nur führen, weil sie so niedlich sind mit ihren riesigen Kulleraugen. Als MS-Betroffener mit Dyarthrie haben wir da ganz eindeutige Nachteile. Helfen könnte aber, wenn wir dem Gesprächspartner offensiv begegnen. »Wenn du mich nicht verstehst, sag es bitte!« So einfach ist das. Dennoch ist die Realität oftmals aus den unterschiedlichsten Gründen komplizierter. Ein Grund wiederholt sich dabei fast immer.  Wir können mit einer solchen Situation nur sehr schlecht umgehen!

 

Entweder wir Betroffenen sprechen so gut wie gar nicht, oder die Zuhörer schalten ab und machen gute Miene zum bösen Spiel. Beides verunsichert uns und kann auf Dauer unsere Persönlichkeit nachhaltig negativ beeinflussen und verändern. Eines ist klar: Wir können unsere Umwelt nicht ändern. Wir müssen uns den Gegebenheiten - so gut es geht - anpassen. Wir haben diese große Aufgabe zu bewältigen. Obwohl man uns nichts ansieht, ändert sich alles, sobald wir den Mund öffnen. Unsere Umgebung würde es mögen, wenn wir ein Schild um den Hals trügen, auf dem stünde: »Ich habe Sprachstörungen, bin aber geistig auf der Höhe!«

 

Je ungezwungener wir mit dem Problem umgehen, desto besser werden wir damit klarkommen. Logopäden können wahre Wunder bewirken. Allerdings sind wir auch in der Logopädie selbst gefragt. Wichtig ist es, die Probleme früh zu erkennen. Wenn uns irgendetwas komisch erscheint beim Sprechen, sollten wir unseren Neurologen aufsuchen, und um eine Überweisung in die Logopädie bitten.

 

Tipps

  • Nicht zurückziehen und verkriechen.
  • Viel sprechen, um die Sprechfähigkeit zu trainieren.
  • Besser langsam und dafür konzentriert sprechen.
  • Frühzeitig eine Logopädie