Hypertonus, Hypotonus/Muskelhypertonie, Muskelhypotonie

1.     Übersetzung

Tonus bedeutet übersetzt Spannung. Hyper bedeutet »über« oder »oberhalb«, Hypo hingegen »unter« oder »unterhalb«. Mit der Muskelspannung ist unsere Ruhespannung gemeint. Leider hören sich die beiden Begriffe hypo und hyper ziemlich ähnlich an, so dass eine große Verwechslungsgefahr besteht.

 

2.     Einführung

Wie funktioniert eigentlich ein Muskel? Wenn wir uns diese Frage beantworten können, wissen wir, was die Gegensätze von Hypertonus und Hypotonus bedeuten.

Leicht verwechseln wir die beiden Symptome, sie hören sich einfach zu ähnlich an. Wenn man feststellt, dass etwas oberhalb bzw. über einer bestimmten Spannung liegt, muss es so etwas wie eine Grundspannung oder zumindest irgendeine bestimmte Muskelspannung geben. Gäbe es diese nicht, könnten wir nicht einmal sitzen.

Wir stehen also eigentlich immer unter Spannung. Jeder Medizinstudent hasst es, die Namen und Gruppeneinteilungen der Muskeln auswendig zu lernen. Kein Wunder, gibt es doch so viele unterschiedliche Muskelgruppen und -funktionen, dass es den Studenten aus den Ohren rauskommt.

 

Was man auf diesem Foto sieht, ist das Ergebnis harter Arbeit und eventuell noch härterer Drogen. Die Muskeln, die wir auf dem Bild sehen, sind nicht die, die uns Probleme bereiten. Unter dem Sixpack und den fetten Muskeln, die den Rumpf bedecken, sitzen kleine unscheinbare Muskeln, die für uns viel wichtiger sind.

 

Sie arbeiten im Verborgenen zwischen den Rippen, auf dem Rücken und an den Seiten unseres Rumpfes. Die fetten Muskeln zu trainieren ist einfach.

 

Bei MS sind es häufig die kleinen Muskeln, die nicht richtig funktionieren. Von diesen kleinen Muskeln haben wir unglaublich viele, besonders in der Quermuskulatur. Was kann so ein kleiner Muskel denn schon anrichten, denkt ihr? Einer bewirkt tatsächlich nicht viel! Aber eine ganze Gruppe entfaltet eine beachtliche Wirkung.

 

Sie sorgt dafür, dass wir stehen können, obwohl unsere Füße nicht gerade eine große Auflagefläche im Verhältnis zum Rest des Körpers besitzen. Ken und Barbie fallen auch um, wenn man sie nicht ganz präzise auf den Boden stellt. Jede Unebenheit lässt sie stürzen. Und wir können sogar auf einem Bein stehen. Versucht das mal mit einer Barbiepuppe.

 

Schaut man sich an, wie diese Frau scheinbar locker auf den Fußballen total gerade steht, dann können wir uns kaum vorstellen, wie viele Muskeln gerade am Arbeiten sind. Sehen tut man nämlich fast nichts. Der Muskelprotz auf dem ersten Bild strotzt vor brachialer Kraft. Bild zwei ist dagegen die pure, feine Eleganz. Auch wenn die Dame aussieht wie eine Barbiepuppe.

Wie funktioniert das eigentlich? Die Vielfalt und die große Anzahl der kleinen Muskeln ist hierfür verantwortlich. Gleich eine ganze Batterie von Muskeln bewegt sich wenige Millimeter hin und her. Bewegen müssen sich diese Muskeln. Auch wenn die Dame auf dem Foto in der Yogaposition scheinbar bewegungslos verharrt (würden wir ein Video sehen natürlich), bewegt sich alles Mögliche in ihrem Körper. Er vollbringt gerade Höchstleistungen. Vielleicht sind die Muskeln sogar aktiver als bei dem Muskelprotz, wenn er Holz hackt. Denn dazu braucht man nur ein paar fette Muskeln und die Dynamik der Bewegung, die ihr Übriges tut.

Jetzt denkt der eine oder andere vielleicht: »Mist, ich kann ja nicht einmal die Arme über dem Kopf halten!«

Und genau das müssen wir uns klarmachen und verstehen. Die Hände über dem Kopf zu halten, verändert das Gleichgewicht und bringt alle kleinen Muskeln in Wallung. Die Rumpfmuskulatur läuft auf Hochtouren, Nacken-, Bauch- und Schulterbereich gleichen alle zusammen die Streckung nach oben aus, damit wir nicht umkippen; dies passiert selbst im Sitzen.

 

3.     Wozu Muskeltonus?

Wozu braucht man eigentlich eine Muskelspannung, könnte man sich fragen. Wir könnten jetzt das schreiben, was ihr auf WIKIPEDIA nachlesen könnt. Das ist aber nicht wirklich gut verständlich. Den Namen des Entdeckers der Schwerkraft - Isaac Newton - hat man seit dem Physikunterricht in der Schule womöglich vergessen, seine Entdeckung, dass ein Apfel immer senkrecht nach unten vom Baum fällt, kennt aber jeder.

 

Für uns bedeutet diese bahnbrechende Entdeckung nichts Gutes. Schwere, Anstrengung, Müdigkeit. Ohne Schwerkraft hätten wir ein gewaltiges Problem weniger, würden allerdings mit tausend neuen Problemen konfrontiert. Nur wenn wir liegen, ist der Muskeltonus kaum von Bedeutung.

 

4.     Agonist und Antagonist

Agonist nennt man den tätigen, den aktiven Muskel. Den haben wir immer im Blick. Wir glauben, nur der täte die Arbeit, wenn wir ein Gewicht heben, etwas werfen oder in der Muckibude den Bizeps betrachten. Doch weit gefehlt! Für jeden Muskel, den wir bewusst bewegen, gibt es einen, der hemmend mitarbeitet; einen Antagonisten. Wenn ich auf einer Körperseite eine Einkaufstasche trüge, fiele ich zu dieser Seite hin um, wenn der Antagonist nicht dagegenhalten würde. Kommen diese beiden Muskeln mit ihrer Arbeit durcheinander, entsteht ein großes Problem.

 

5.     Hyper (zuviel)

Unter Tonus in Bezug auf unsere Muskulatur versteht man also die Muskelspannung. Bei MS ist unser Muskeltonus in aller Regel gestört. Was passiert eigentlich, wenn die kleinen Muskeln schon im Ruhezustand angespannt sind, sich also hyperton verhalten? Ganz einfach, sie können sich nur noch begrenzt weiter strecken und unsere Bewegungsfähigkeit wird immer geringer, je höher die Spannung ansteigt.

 

Die Elastizität ist nicht mehr da, wie bei einem festgestellten und damit seiner Funktion beraubten Stoßdämpfer. Eine mögliche Folge ist z.B. ein Bandscheibenvorfall im Halsbereich. Ursache ist vielfach der Hypertonus. Dies machen sich viele MS-Betroffene erst im Nachhinein klar, nachdem sie schon lange wissen, dass sie MS haben. Schläge, z.B. beim Fahren auf dem Fahrrad, werden von der Nacken- sowie der Brust- und Rückenmuskulatur nicht mehr richtig abgefangen und belasten folglich Wirbel und Bandscheiben.

 

Eine weitere Folge des Hypertonus, ist die Kontrolle der Bewegung. Unsere Steuerung im Gehirn ist auf die Vorspannung der Muskeln eingestellt. Dementsprechend fallen auch die Befehle aus. Wenn vorher ganz automatisch bei der Armstreckung ein Glas gegriffen wurde, schafft der Arm es jetzt auf Anhieb nur noch bis kurz vor oder neben das Glas. Und nun legt die Sensorik los, die bei uns ja auch meistens gestört ist und sendet blöderweise Fehlinformationen.

 

Jeder kennt diese kleinen bunten Gummiringe.

 

Nimmt man einen Gummiring und zieht ihn fünf Zentimeter auseinander, ist das kein Problem. Nun legen wir das Gummiband über Kreuz und halbieren so seinen Umfang, dann gehen 5 Zentimeter schon deutlich schwerer. Machen wir das so oft, bis die Gummibänder so kurz sind, dass man sie kaum noch dehnen kann, schaffen wir die Dehnung von fünf Zentimetern nicht mehr. Jeder einzelne Strang wird immer kürzer und die Spannung muss immer höher werden, um den Gummiring fünf Zentimeter zu dehnen. Treibt man es auf die Spitze, reißt das Gummiband an der schwächsten Stelle.

 

Mit unseren Muskeln sollte das möglichst nicht passieren. Vielleicht geht ein Muskel deshalb in eine Endposition und bewegt sich gar nicht mehr, wenn die Spannung zu hoch wird. Das ist dann jedenfalls Spastik in ihrer schlimmsten Form. Aktiver und nicht aktiver Muskel verharren in ihrem Spannungszustand und bewegen sich nicht mehr.

 

6.     Hypo  (zu wenig, schlaff)

Kommen wir nun zu dem Symptom „Hypotonus“ und seinen Auswirkungen. Muskelhypotonie ist eine zu geringe Grundspannung der Muskulatur. Zur besseren Anschauung stellen wir uns wieder die kleinen bunten Gummibänder als Ersatz für unsere Muskeln vor. Muskeln sind nämlich auch elastisch. Und wir haben unterschiedliche Längen und Anzahlen von Einzelsträngen in den Muskeln (wie Gummibänder). Wir kennen alle ausgeleierte Gummibänder, die dann ihre vorgesehene Arbeit nicht mehr verrichten können. Ein schlaffer Muskel ist wie ein ausgeleiertes Gummiband. Hängt man ein Gewicht daran, dehnt es sich viel weiter, als es das neue Gummiband tun würde. Es wäre also ausgeleiert, unbrauchbar. Für uns heißt das, dass man sich mit den schlaffen Muskeln fühlt wie ein Sack Sülze!

 

Ist beispielsweise die Bein-, Po- und Rückenmuskulatur betroffen, ist das Stehen fast unmöglich. Während man mit einem starken Hypertonus noch stehen kann, aber die Füße kaum vom Boden angehoben und vorwärts bewegt werden können, schafft man es mit Hypotonus häufig gar nicht erst in eine aufrechte Position.

 

7.     Mischformen beider Symptome

MS ist nur scheinbar so unberechenbar und mystisch, wie oft kolportiert wird! Unsere Schaltzentrale - das Kleinhirn - kann schon mal gewaltig beliebig durcheinanderkommen, also alle erdenklichen Fehlleitungen auslösen. Deshalb sind eine linke überangespannte Körperhälfte und eine rechte schlaffe Körperhälfte keine Seltenheit. Innerhalb einer Körperhälfte treten diese merkwürdigen Gegensätze eher nicht auf. Wenn die Steuerung spinnt, kann eben alles passieren! Es wäre viel einfacher, wenn der Muskel selbst ein Problem hätte, dann wüsste man zumindest, wo man therapeutisch ansetzen muss.

 

Zu einer Steuerung gehören viele Dinge. Das gesamte Rückenmark und der Sehnerv zählen auch zum zentralen Nervensystem. Wir müssen all unsere Sinne parat haben, um unser Potential voll ausschöpfen zu können. Dazu müssen die Sinne im Gehirn richtig verarbeitet werden. Das tun sie bei uns aber entweder nur ein bisschen, zu viel oder gar nicht. Dann schickt unser Superhirn Signale auf einer falschen Grundlage los. Das ist einfach schlecht! Gleichzeitig ist auch noch die Ausgabeeinheit „im Eimer“ und es werden zu starke, zu schwache oder gar keine Signale gesendet. Man kann das Problem hier technisch beliebig weiterspinnen. Aber! Jeder, dem sein PC schon einmal abgeschmiert ist, weiß, was von den WINDOWS- oder APPLE-Meldungen zu halten ist.

Neustarten oder den »Rechner plattmachen« sind Alternativen, die sich bei unserem  Gehirn leider ausschließen. Deshalb hören die Gemeinsamkeiten mit der Technik an dieser Stelle auf.

Eines sollte jedem klar sein: Anschreien! Dagegen ankämpfen! Wut! Dagegenstemmen!, all das ist vergeudete Kraft und deshalb völlig deplatziert.

Auch wenn wir im TV ständig hören, wie VIP´s gegen irgendeine Krankheit kämpfen, ist und bleibt Kampf idiotisch und kontraproduktiv. Andererseits hilft es auch wenig, wenn wir unseren Computer in den Arm nehmen und mit ihm kuscheln. Deshalb läuft er auch nicht besser. Wer hingegen meint: »Meine MS interessiert mich nicht, ich ignoriere sie einfach.“, wird genauso scheitern.

 

8.     Was also tun?

Ganz einfach! Wer rastet, der rostet! Das gilt für beide Symptome! Diese simplen, blöden Sprüche stimmen dummerweise meistens. Legt mal ein Gummiband in die Sonne und lasst es dort rumliegen. Ihr glaubt doch nicht, dass man das noch benutzen kann, oder? Und wenn ein Muskel immer zu hohe Spannung hat, muss er eben gedehnt werden! Unsere Muskeln sind dazu gedacht, sich immer - außer während der Schlafphase - zu bewegen. Je öfter wir sie bewegen, desto geschmeidiger bleiben sie. Gerade wenn die Zentrale oben im Hirn mal wieder falsch funktioniert, sind gleichmäßige Muskelbewegungen eminent wichtig. Langanhaltend soll das Training sein mit minderer Belastung. Muckibude, Gewichte stemmen dürfte für uns nicht das geeignete Mittel sein.

 

8.1 Zum Nachdenken!

Jeder von uns hat schon einmal die Warnung, auf keinen Fall über Grenzen zu belasten, von seinem Neurologen vernommen! Und dieser Hinweis macht Sinn! Aber wo sind denn die Grenzen der gesunden Belastung? Das wird euch der Neuro nicht sagen können. Sie sind bei uns jedenfalls woanders als bei einem Gesunden heißt es.

 

Stimmt das? Müsste man nicht ein bisschen genauer hinschauen? Nehmen wir zwei Vergleichspersonen. Die eine Person frönt dem Leistungssport, die andere hält Sport für Mord. Beide erkranken an MS. Vielleicht kann die Sportskanone selbst krank noch mehr als der Sporthasser. Wir wissen es nicht. Und wie willst du deine hypertonen oder hypotonen Muskeln aufbauen, wenn du die Grenzen nicht erweiterst? Wir wissen nicht, wie das gehen soll.

 

Wer ein gutes Körpergefühl hatte und viel Spaß an Sport hat, ist jetzt natürlich im Vorteil. Die psychische Komponente, Anstrengung als positiven Aspekt zu empfinden, ist individuell ausgeprägt. Der eine muss mehr daran arbeiten als der andere. Wichtig ist es allemal. »Spastik beginnt im Kopf! Du Schlaffi!«

 

Weiter mit Punkt 8

 

Selbst wenn man mit dem Rollstuhl durch die Gegend fährt, bewegt sich so viel im Körper, dass man es sich kaum vorstellen kann. Alles wird durch kleine Bewegungen trainiert. Die tiefe Rücken- und Bauchmuskulatur, deren Training uns so wenig Spaß bereitet, ist häufig für den Beginn allen Übels zuständig. Fehlhaltung, Fehlbelastung, Bandscheibenvorfall. Diese Reihe ließe sich beliebig fortsetzen. Schlaffe Lähmung wie spastische Lähmung sind echte Herausforderungen. Sie beginnen häufig mit Veränderungen des Muskeltonus. Es ist deutlich schwieriger ohne Muskelspannung etwas zu trainieren als mit zu hoher Muskelspannung. Medikamente gibt es auch nicht.

 

Jede auch noch so kleine Bewegung, die wir tun können, ist ein Schritt nach vorn. Gerade zu Beginn der Erkrankung stellen wir zu niedrigen oder zu hohen Muskeltonus kaum fest.

 

9.     Eine Theorie

Wenn die kleinen Muskeln versagen, schalten wir auf die großen, mächtigen Muskeln um. Die brauchen aber viel zu viel Energie. Also sind wir schlapp, müde und ausgelutscht. Häufig wird dieser Zustand mit Fatigue verwechselt.

 

Wahrscheinlich habt ihr das im übertragenen Sinn tagtäglich getan, ohne dass ihr es merkt! Und dann wundert ihr euch, dass ihr müde seid?

 

Welche Pille soll bitteschön helfen, wenn man den falschen Hammer benutzt? Und dass man es Fatigue nennt, hilft da auch nur wenig!

 

Ein Hinweis noch! Draußen trainieren ist tausendmal effektiver als drinnen! Auf dem Rad, dem Dreirad, dem Rollstuhl, beim Gehen, immer müssen wir den Untergrund ausgleichen, uns im weiten Raum zurechtfinden, gegen die blendende Sonne ankämpfen. All das trainiert. Im Wohnzimmer, vorm Fernseher, auf dem Motomed sollten wir nur trainieren, wenn es überhaupt nicht anders geht!

 

10.    Tipps

 

Bewegungen kontrolliert ausüben!

Fehlhaltungen vermeiden!

Muskeln wollen immer bewegt werden!

Physiotherapie frühzeitig beginnen!

Ergotherapie!

Jede Art von Körper-Geisttraining wie Yoga, Qigong und Co. hilft!

Bitte hasst die nicht funktionierenden Körperteile nicht, sie können nichts dafür!

Gebt den Muskeln Ruhe, wenn sie das wollen!

Überlastung ist schädlich!

Unterforderung ist noch schädlicher!