Das Schreckgespenst

Heute werden wir sehen, ob unser Spezi wirklich was auf der Pfanne hat. Ich bin gespannt. Aber was ist mit Denise los?
Denise? Was hast du denn gemacht?
Sie scheint sich was gebrochen zu haben, jedenfalls trägt sie einen dicken Gips am linken Bein und hoppelt auf Krücken
rein.
Ich bin gefallen.
So habe ich Denise noch nie gesehen. Sie ist ein Häufchen Elend.
Wie ist das passiert Denise?
Blöd gelaufen! Also ich bin an einer Kante hängen geblieben.
Wie! An einer Kante? Du bist über eine Stufe gestolpert. Das ist mir beim Joggen auch schon einmal passiert. Die Beine
waren schon ...
Gejoggt hast du nicht, oder? Bist du schon öfter mit einem Fuß irgendwo hängengeblieben?
So oft noch nicht. Eigentlich immer nur, wenn ich meine Kräfte überschätzt habe. In der letzten Woche war ich dann total
müde und kaputt. Die Unsicherheit auf den Beinen wurde ...
Von Unsicherheit hast du gar nichts erzählt! Wenn ich beim Joggen ...
Almuth! Lass doch Denise erst einmal in Ruhe erzählen. Das hört sich alles nicht gut an.
Ok, sorry! Ja, Denise, erzähl weiter.
Die Stimmung ist bedrückt. Offenbar hat selbst Almuth gemerkt, dass da was im Busch ist. Dass an dem Sturz mehr dran
ist, als ein einfacher Unfall. Man spürt es förmlich am Tisch. Gerald schaut auf sein Handy, das nur das Startlogo zeigt
und nicht die üblichen tausend Nachrichten auf die Tischplatte vibriert. Almuth fingert nervös an ihrer Serviette herum
und lächelt gequält und mein Herz pocht wie verrückt. Denise ist ein anderer Mensch heute Abend.
Ok, also die Unsicherheit hat im letzten Jahr zugenommen. Anfangs habe ich es gar nicht bemerkt, aber dann wurde es
immer stärker. Aber was soll`s, man lässt sich von solchen Kleinigkeiten doch nicht den Tag vermiesen.
Der sonst so spontane Witz, den Denise bislang mit jedem noch so kleinen Beitrag versprühte, wirkt heute gequält. Es ist
nichts Witziges an der Situation, die allen, außer vielleicht Denise, klar zu sein scheint. Sie hat einen Schub! Und es geht
ihr allgemein nicht ansatzweise so gut, wie uns das schien. Man sieht es ihr auch nicht an, sie lacht, ist fröhlich und hat
immer einen dummen Spruch auf den Lippen. Jetzt ist die Maske gefallen und Denise wird nie wieder so wahrgenommen
werden wie zuvor.
Ich bin an einer dämlichen Fußmatte hängengeblieben. Wenn ich wenigstens genau sagen könnte, wie ich danach
abgesegelt bin! Es ging alles so schnell. Und dann hörte ich ein krachendes Geräusch. Ein stechender Schmerz schoss in
mein Hirn, und es gab keinen Zweifel, dass beim Sturz was kaputt gegangen war. Unser Neuro warnte mich schon seit
langem vor auftretender Fußheberschwäche, aber ich habe nicht auf ihn gehört. Hey, ich kann doch laufen!
Das sieht man! Mit steifen Beinen magst du dich auskennen, aber ein Gips ist noch eine Spur unbeweglicher.
Los Leute, wir schreiben erstmal was Lustiges drauf auf den Gips!
Almuth ist noch ein Buch mit sieben Siegeln für mich! Einmal kann sie es nicht sein lassen, immer wieder von ihrem
Sportwahn zu erzählen, um dann blitzartig mitfühlend zu sein.
Warst du schon bei unserm Neuro?
Was soll ich da mit einem Gipsbein? Meinst du, der ist auf Gips umgestiegen?
Denise! Dir ist doch garantiert schon die Idee gekommen, dass du einen Schub hast oder das einer im Anmarsch ist,
oder?
Na, ja.
Nicht na, ja, sondern ab zum Neuro und fragen, was er davon hält. Du weißt das ganz genau, immerhin bist du nicht erst
seit gestern bei ihm Kunde. Und überhaupt, die Zeit ist perfekt, dir einen Rollstuhl verschreiben zu lassen!
Tickst du nicht ganz richtig, Gerald? Sehe ich aus, als bräuchte ich einen Rolli?
Sehe ich so aus?
Das ist doch aber was ganz anderes, Gerald!
Wieso ist das was ganz anderes?
Sorry, Gerald, du bist doch viel stärker betroffen als wir! Das kann man doch nicht vergleichen.
Interessant! Ihr habt mich doch schon gesehen, wie ich gelaufen bin! Wieso glaubt ihr dann, bei mir wäre es etwas ganz
anderes? Denkst du das auch, Franziska?
Ich weiß nicht! Irgendwie schon. Deine Beine, dein Gang, das ist alles irgendwie ... Ach, ich weiß auch nicht, wie ich es
ausdrücken soll.
Du siehst behindert aus, Punkt!
Oops. Wenn das mal keinen Ärger gibt. Ich denke ja das Gleiche, aber das hätte ich doch nie zu Gerald gesagt! Almuth
verkriecht sich hinter einem Schminkspiegel und zieht die Augenbrauen nach. Und jetzt gibt es auch noch so eine
unangenehme Situation, in der keiner was sagt. Was könnte ich jetzt bloß sagen? Mist ... Gerald guckt schon so beleidigt.
Ach kommt Leute, meint ihr, ich weiß nicht, wie ich auf andere Menschen wirke? Spastische Beine sind nicht gerade
geeignet, damit elfengleich durch die Gegend zu laufen. Man sieht richtig behindert aus. Die Blicke der Passanten sagen:
Die arme Sau! Einige Blicke scheinen zu sagen: Muss der hier so Rumeiern? Die Unsicherheit im Umgang mit der
Öffentlichkeit habe ich lange hinter mir. Jedenfalls meistens!
Genau, und wieso sollte Denise dann einen Rolli brauchen? Womöglich willst du mir auch noch einen andrehen! Ein Rolli
ist das Allerletzte, was ich jemals benutzen werde. Wenn das bei mir so weit kommen sollte, habe ich noch Plan B in der
Tasche.
Es ist wohl jedem klar, was Almuth damit meint, aber das ist heute kein Thema. Es geht um Denise. Über diese Plan-BGeschichte können wir, wenn überhaupt ein andermal sprechen.
Aber ein Rollstuhl ist doch noch schlimmer, als eierig durch die Gegend zu laufen, Gerald?
Bist du dir da sicher, Denise? Was ist besser: Besoffen oder behindert? Wenn ich mich mit Stöcken auf dem Gehweg
voran quäle, immer die Entgegenkommenden im Blick, immer stehenbleiben, wenn jemand kommt, immer diese Blicke,
wenn ich ins Schwanken komme, weil ich nicht gleichzeitig den Weg, die Entgegenkommenden und meine Beine
beobachten kann. Das ist behindert! Vor allem behindert es mich. Ich gehe wirklich viel, aber bestimmt nicht mehr von A
nach B, wenn ich in einer bestimmten Zeit da sein will. Warum sollte ich mir das antun? Ich kann es, aber ich will es nicht
mehr. Ich weiß, dass ich noch gehen kann! Anderen muss ich das nicht zeigen, die sind mir egal. Meint ihr, ich würde im
Rolli versacken? Im Leben nicht!
Ja, aber trotzdem ist das etwas anderes!
Es ist immer etwas anderes, wenn es einen selbst betrifft, Denise. Dann ist es mit einem Mal persönlich. Drüber reden,
über andere reden, kluge Ratschläge geben, das ist natürlich etwas anderes. Es kommt mir vor, als würde ich mir selbst
zuhören, wie ich vor zehn Jahren geredet habe, Denise! Immer die gleichen Argumente. Der Rollstuhl ist in unserer Phase
der Erkrankung ein »nice to have«. Nutzt es! Wozu quälen und dann die Beine brechen.
Ich habe mir das Bein aber in der Wohnung gebrochen!
Zum Glück! Was meinst du, was hätte passieren können, wenn du auf die Straße gestürzt wärst und ein Auto gekommen
wäre?
Meinst du denn, Denise würde überhaupt einen Rolli verschrieben bekommen, Gerald?
Die Frage ist doch, ob die Kasse einen bezahlt. Ich glaube nicht, dass die einen Rolli übernehmen!
Wieso bist du eigentlich so negativ, Almuth, hast du schlechte Erfahrungen gemacht?
Es weiß doch jeder, dass die nichts mehr bezahlen heutzutage. Lies mal auf den Facebook-Seiten, dann weißt du, wie das
abgeht! Die Kassen wollen gar nichts bezahlen! Da sind Leute, die hocken in ihren Wohnungen, sind schwer krank, und
die Kassen lassen sie allein!
Aha! Und du weißt auch genau, dass das stimmt, was die erzählen, ja? Das bedeutet nicht, dass die Geschichten nicht
stimmen. Vielleicht plappern sie aber auch nur nach, was andere sagen. Es halten sich jede Menge Halbwahrheiten im
Netz. Ich glaube nur das, was ich selbst ausprobiert habe. Was der oder die eine bekommt, bekommen andere noch lange
nicht. Jeder Sachbearbeiter entscheidet eventuell im Rahmen seines Ermessensspielraums anders. Wer weiß!
Und du meinst, ich sollte mir tatsächlich einen Rollstuhl verordnen lassen?
Das hört sich schon ganz vernünftig an, was Gerald sagt, Denise. Vielleicht ist es auch einfacher mit dem Rollstuhl
umzugehen, wenn man noch etwas beweglicher ist. Du könntest ihn für weite Strecken mitnehmen. Wenn ich recht
überlege, ist das schon eine gute Sache.
Oder willst du warten, bis du dir ständig die Knochen gebrochen hast?
Ja, ich habe es verstanden! Ist ja gut. Dann hau mal rein, Spezi und besorg‘ mir einen. Aber das muss ein echt geiler Rolli
sein. Mit richtig krasser Farbe!
Das ist die Denise, die wir kennen!

Yeah!
Neulich kam jemand zu mir und hat mich gefragt, ob sein Rezept so in Ordnung sei. Es hatte ihm jemand gesagt, ich
hätte Plan davon. Wir telefonierten und er sandte mir sein Rezept per Whats-App. Ich dachte, mich trifft der Schlag, als
ich las, was ein richtiger echter Neurologe auf die Verordnung drucken ließ.

»Ein Rollstuhl ist erforderlich«
Diagnose ED, keine Nummer, nix!

Was ist daran jetzt so verkehrt? Rollstuhl ist doch richtig. Verstehe ich nicht!
Es gibt jede Menge unterschiedliche Arten von Rollstühlen, richtig, Spezi?

Ja, das auch! Habt ihr schon einmal eine Verordnung gesehen, auf der nicht das steht was verordnet wird, sondern, wie
der Zustand des Patienten ist? Nach dem Motto: Da braucht jemand einen Rollstuhl, wo er ihn herbekommt, ist mir doch
egal! Dann schrieb mir der Mann mit der Verordnung, sein Neuro hätte ihn mitleidig angeschaut und dann gesagt:

Wollen Sie sich das wirklich antun?

Das finde jetzt sogar ich krass. Ich meine, ich bin jetzt auch nicht so mit schwer Betroffenen vertraut, aber seit ich
unseren Spezi kenne, hat sich schon einiges verändert. Mir ist klar geworden, dass die Angst unbegründet ist. Man muss
sich damit auseinandersetzen, oder nicht?
Nö! Muss man nicht! Warum sollte ich Kontakt mit total Kaputten suchen, damit ich mir in die Hosen mache, in der
Erwartung es würde mich vielleicht auch mal so treffen? Sorry Gerald, dich zähle ich nicht dazu. Du bist irgendwie
anders.
Aber du kennst doch nur unseren Spezi! Mich hat der Abend davon überzeugt, dass ich vorbereitet sein muss. So sehr ich
auch Schiss vor dem Rolli habe, verstehe ich jetzt, was Gerald meint. Und er hat recht! Wenn du mir sagen kannst, was
auf das Rezept muss, dann mache ich einen Termin bei unserem Lieblings-Neuro. Der wird sicher
Kortisoninfusionen vorschlagen.
Nimmst du Kortison? Also ich habe da Bedenken. Eigentlich brauche ich das nicht, diese Chemie.
Und was machst du alternativ?
Ich lebe gesund, mache konsequent Sport, wobei dabei wichtig ist, dass man Ausdauersport macht. Und ich achte ganz
genau darauf, was ich esse. Ich vergifte doch nicht einen Körper, der sowieso schon kaputt ist.
Wie kannst du dann eigentlich zu unserem Neuro gehen?
Bislang hatte ich noch keinen Schub, seit ich bei ihm bin. Ist das ein Aufnahmekriterium bei unserem Neurologen?
Pump mich mit überflüssigem Kortison voll!
Gerade von Almuth hatte ich diese Haltung nicht erwartet. Die scheint ja komplett beratungsresistent zu sein. Das
werden noch anstrengende Diskussionen.
So, nach dem erhellenden Fachvortrag von Almuth, wie man mit Durch- die- Gegend- rennen gesund wird, sag mir doch
bitte, was auf die Verordnung muss, Gerald?
»Ein speziell angepasster Aktivrollstuhl«!
Das kommt auf die eine Verordnung. Und jetzt ganz wichtig! Das Sitzkissen muss auf eine zweite Verordnung. Das war
das Problem mit dem Mann, von dem ich eben erzählte. Als ich sagte, dass er drei Verordnungen braucht, muss schon
wieder was bei seinem Neuro schiefgegangen sein. Er hatte das Sitzkissen den Rücken und den Rolli auf einer
Verordnung. Das ist jetzt der Stand. Also heißt es zurück zum Neuro und drei neue Verordnungen geben lassen.
Drei? Rücken?
Der Mann hat schon etwas größere Probs mit der Rumpfstabi. Da ist z.B. ein fester Jay-Rücken eine gute Hilfe, ohne dass
man gleich komplett entlastet wird, wie bei einem Pflegerollstuhl.
Pflegerolli? Jetzt wird´s aber komisch hier, Spezi! Gleich kommst du noch mit ‘nem E-Rolli um die Ecke.
Außer Almuth finden wir das alle lustig. Die Atmosphäre ist entspannt und Denise ist fast wieder die Alte.
Ach ja, auf der Verordnung muss stehen:
»Ein Antidekubitus-Sitzkissen«
Und ihr werdet es nicht glauben, die wussten in seiner Neuro-Praxis nicht, was das ist.
Ich auch nicht! Aber ich bin ja auch kein Neurologe.